Statement zum Angriff auf das sPD Büro in Haltern

(Disclaimer: Wir haben mit der militanten Aktion selbst nichts zu tun. Wir reagieren nur auf die Ereignisse die die Aktion mit sich zog.)
[Triggerwarnung: Gewalt, Transfeindlichkeit, Familie, TSG]
Das TSG ist die Gewalt.
Eine Befragung des Bundesverband-Trans* aus dem Juni 2020 ergab das 79% der trans*geschlechtlichen Jugendlichen in Deutschland von ihrer Familie beim coming out nicht in ihrer Identität und in ihrem Geschlecht ernst genommen würden. 6% der Jugendlichen berichten von Gewalterfahrungen innerhalb der Familie.
2020 wurde laut Bundesinnenministerium jeden 3. Tag eine LGBTIQ+ Person Opfer von Gewalt.
Fast die Hälfte aller trans* Personen hat mindestens einen Suizidversuch hinter sich.
Wer die Personen bezogenen Daten (Geschlechtseintrag, Name) ändern will, muss fremden Gutachter*innen übergriffige Fragen über das eigene Sexleben, die persönliche Entwicklung oder die Unterwäsche beantworten. Wer das nicht tut: Kein Gutachten. Diese Gutachten müssen selbst bezahlt und vor einem Amtsgericht auf eigene Kosten verhandelt werden, das alles kostet zwischen 3.000 und 5.000 €.
Die sPD hatte am 19.05. im Bundestag die Möglichkeit sich auf die Seite von trans* Personen zu stellen und diese unnötige Drangsalierung rund um die eigenen Daten zu beenden. Doch anstatt dies zu tun, haben sich die ausnahmslos nicht vom TSG betroffenen Abgeordneten dagegen entschieden. Sie haben ihre Regierungsbeteiligung über die Freiheit und die Sicherheit von trans* Personen gestellt.
Mit dem Selbstbestimmungsgesetz käme auch ein sog. Offenbarungsverbot. Mit diesem müssten trans* Personen sich künftig nicht mehr bei jeder Fahrkartenkontrolle, jedem Arztbesuch, jeder Polizeikontrolle outen, in der Hoffnung nicht misgendert zu werden. Sie hätten, wie alle anderen Menschen auch, das Recht bei dem richtigen Namen und den richtigen Pronomen angesprochen zu werden.

Die mediale Reaktion auf diese Aktion zeigt ganz klar: Direkte Aktion funktioniert (weitere Infos u.a. hier: Bekenner*innenschreiben: https://de.indymedia.org/node/149388; Artikel: https://www.queer.de/detail.php?article_id=39000).

Die enorme Aufmerksamkeit die die Aktion erhielt, ist beispiellos. Die sPD in NRW und die sPDQueer äußerten sich beide überheblich zu der Aktion. Nadja Lüders, Generalsekretärin der sPD in NRW, spricht von einer “gefährlichen und antidemokratischen Denkweise”, auch wenn sie den Frust darüber dass es in Deutschland bei der Selbstbestimmung nicht progressiv genug zuginge “in allen Ehren halte”, so als wäre die sPD nicht mit dafür verantwortlich dass das Selbstbestimmungsgesetz nicht beschlossen wurde. Außerdem wird hier die Tatsache dass das TSG seit 40 Jahren Menschen diskriminiert komplett heruntergespielt. Für nicht-Betroffene ist diese Frustration nicht nachvollziehbar.

Ebenso absurd ist der Vorwurf, die Tat wäre mit “Hetze und Aufrufen zu Gewalt in den sozialen Medien” quasi vorbereitet worden. Auf die Idee, dass nach 40 Jahren der Pathologisierung und der unmenschlichen Prozedur des TSG trans* Menschen vielleicht wütend sein könnten wenn ihnen erneut eine Selbstbestimmung verwehrt wird kommt hier scheinbar niemand. Nein, stattdessen sei diese Aktion ein “Ergebnis grüner Schaufenstereinträge” gewesen, so stellv. Bundesvorsitzender der sPDQueer, Oliver Strotzer. Als wäre die Hoffnung die trans* Personen gegeben wurde das Problem, nicht das verachtende Abstimmungsverhalten der sPD.

 

Aber auch weit über die sPD wird Häme und Abscheu gegen trans* Menschen deutlich, so schreibt z.B. eine Autorin der Halterner Zeitung, die selbst nicht trans* und somit nicht von Gewalt und Diskriminierung betroffen ist, die Aktion sei “feige und dumm” gewesen. Als nicht Betroffene kann sie nicht beurteilen wie schlimm die Diskriminierung ist und wie radikal die Reaktion auf diese sein darf. Schon gar nicht kann sie den “Frust darüber” nicht nachvollziehen.

Auf der Website mannschaft.com findet sich ein Artikel, in dem die Aktion in einem Atemzug mit dem rechtsextremen Mord an Walter Lübcke genannt wird.

Zur Erinnerung: Es geht um ein paar kaputte Scheiben.

 

Und natürlich folgte die Empörung über die Wahl der Mittel des Protestes. Dass Sachbeschädigung ja ein Verbrechen und unmoralisch und Gewalt sei. Die 40 Jahre Menschen- und Verfassungsfeindlichkeit des TSG sind Gewalt, ein paar kaputte Scheiben und etwas Farbe sind damit nicht im Ansatz zu vergleichen. Jahre des friedlichen Protestes gab es, es gab auch vor der Abstimmung über das Selbstbestimmungsgesetz am 19.05.2021 Protest, Petitionen, Kundgebungen. Sie alle haben nicht mal im Ansatz die mediale Aufmerksamkeit bekommen wie ein paar Steine die gegen die Scheiben eines sPD-Büros in so einem kleinen Ort wie Haltern flogen. Weil das kein Aufreger ist der medial verbreitet werden kann. Auch das ignorieren diskriminierter Gruppen ist ein Grund dafür dass diese sich selbst ermächtigen, sich selbst eine Stimme geben. Es wird so lange ignoriert bis der Protest entweder aufhört oder die Verantwortlichen gestört werden.

“A riot is the language of the unheard”  ~Martin Luther King

Vereinzelt lassen sich aber auch in den sozialen Medien Stimmen der Vernunft und der Solidarität mit Betroffenen transfeindlicher Gewalt finden.

Wir, ein Zusammenschluss aus Antifaschist*innen aus Haltern und Umgebung stehen solidarisch und entschlossen an der Seite aller trans* Personen.

Wer unterdrückt wird, darf sich wehren, und zwar so wie er*sie es für richtig hält.

Stonewall was a riot.